Leben

Halt mich, nur ein bisschen

Ob jung oder alt: Menschen brauchen Berührungen, um zufrieden und gesund zu bleiben. Eine kleine Umarmung kann große Glücksgefühle auslösen. Doch nicht immer braucht es einen anderen dazu – auch Selbstberührung zählt. 

Text: Gabriele Kuhn

Wenn Elisa Meyer einen Menschen umarmt, dann spürt sie schon nach zehn Minuten, wie er sich entspannt. Seine Muskeln werden weicher, Energie fließt. Manche seufzen, der Atem ist tiefer und langsamer.
Elisa, 33, ist „Profi-Kuschlerin“, Gründerin der „Kuschelkiste“ und bietet ihren Service in Österreich, Deutschland, Luxemburg und in der Schweiz an: Körperkontakt auf Bestellung. An sie wenden sich Frauen und Männer, um Nähe zu spüren – 70 Euro pro Kuschelstunde, inklusive Vorgespräch. Und sie organisiert Kuschelpartys, auch in Wien: Dort treffen sich Menschen, um einander absichtslos zu berühren. 
Halt mich, nur ein bisschen: Da geht’s nicht um Sex, sondern schlicht darum, für kurze Zeit „bemuttert“ zu werden. Danach sehnen sich Junge ebenso wie Ältere, oft Personen, die gerade eine Krise erleben oder denen Berührung im Laufe ihres Lebens aus unterschiedlichen Gründen abhandengekommen ist. Wegen einer Trennung oder weil die Partnerin/der Partner gestorben ist, die Sehnsucht nach zärtlicher Verbundenheit blieb trotzdem. „Aber selbst in Langzeitbeziehungen, also bei Paaren, die seit Jahrzehnten zusammen sind, fehlt es oft an körperlicher Nähe“, erzählt Elisa.

Ohne Berührungen verhungern wir

„Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben. Acht Umarmungen pro Tag, um uns gut zu fühlen und zwölf Umarmungen pro Tag, um zu wachsen“, formulierte es die Familientherapeutin Virginia Satir (1916–1988) anschaulich. Was sie damit ausdrücken wollte: Dass wir ohne Berührung emotional „verhungern“. Sie hilft, sich selbst und die Welt zu spüren – wer berührt wird, fühlt sich wahrgenommen, wertgeschätzt, gesehen und gewollt. Wissenschaftliche Studien dazu gibt es unzählige: Sie alle untermauern den Wert berührender Nähe. Selbst der Effekt des Händchenhaltens wurde bereits untersucht: Es beruhigt und reduziert Ängste. 
Körperkontakt ist im Zeitalter der Smartphones und Tablets rarer geworden. Zuletzt war gar von einer „Kultur der Berührungsarmut“ die Rede. Dann kam die Pandemie und mit ihr das viel zitierte „Social Distancing“. Auf einmal erfuhren die Menschen so deutlich wie nie zuvor, wie sehr ihnen Nähe und Berührungen fehlten. In einer internationalen Studie von „Nivea“ gaben drei von vier Befragten an, dass ihnen die Isolation erst richtig bewusst gemacht hat, wie bedeutend Berührung für ein glückliches und gesundes Leben ist.

Ruhig auch einmal einfordern

Über das Bedürfnis nach Hautkontakt und körperlicher Nähe müsse viel offener gesprochen werden, ist Elisa Meyer überzeugt: „Wir sollten den Mut haben, Berührung bewusst einzufordern. Es ist nicht falsch, sich von vertrauten Menschen eine Umarmung zu wünschen. Unter Freund*innen und guten Bekannten sollte es normal sein, dass man einander öfter in den Arm nimmt.“ Kleine Gesten, große Wirkung: eine leichte Berührung am Arm oder eine tröstende Umarmung sind mächtige Werkzeuge, die das Potenzial haben, Blutdruck und Herzfrequenz zu senken. Entspanntes Wohlgefühl stellt sich ein, Körper und Seele regenerieren. Durch Berührung gehen wir in Dialog – im Sinne eines Gebens und Nehmens. Meyer schuf wohl auch deshalb ein ­„Kuschel-Netzwerk“: Interessierte können sich bei ihr ausbilden lassen, um etwas über die Ethik des Kuschelns zu erfahren oder die besten Kuschel-Positionen.

Das Wunderhormon Oxytocin

Der menschliche „Hauthunger“ ist angeboren, das inkludiert auch Selbstberührungen. „Sobald der ­Fötus seine Arme und Beine isoliert voneinander bewegen kann, führt er in den Wachphasen sehr komplexe und auch zielgerichtete Bewegungen aus“, schreibt der deutsche Haptikforscher Martin Grunwald in seinem Buch „Homo hapticus“. Die meisten dieser Bewegungen beziehen sich auf den eigenen Körper, vor allem Kopf und Gesicht. Die Selbstberührungen im Bauch der Mama nehmen zu, wenn sie sich gestresst fühlt. So beruhigen sich die Kleinen wieder. Vor allem das Berühren des Gesichts begleitet uns durch das Leben: An die 400 bis 800 Male greifen sich die meisten Menschen im Laufe eines Tages an Wangen, Stirn, Nase oder Mund – je gestresster, desto häufiger. 
Berührungen und Selbstberührungen lösen eine Kaskade körperlicher Reaktionen aus, allem voran die Ausschüttung von Oxytocin. Ein Hormon, das entspannt, gleichzeitig wird das Stresshormon Cortisol reduziert. Oxytocin stillt Schmerzen und unterstützt das Immunsystem, vor allem aber schafft es Vertrauen und Verbindung. Deshalb wird es gerne als „Wunderhormon“ bezeichnet, das nur entsteht, wenn die Berührung als angenehm empfunden wird. Dann wirkt es sogar, wenn Profi-Kuschler*innen ans Werk gehen: „Obwohl ich eine fremde Person bin, erzeugt Oxytocin den Eindruck von Vertrautheit und Wohlwollen“, erzählt Elisa Meyer. Manche ihrer Klient*innen entspannen sich so sehr, dass sie nach einer halben Kuschel-Stunde in ihren Armen einschlafen.

Haut wirkt magisch, auch in der Pflege

Selbst scheinbar unbedeutende Körperberührungen im sozialen Umfeld entfalten eine magische Wirkung. Das hat vor allem für den Alltag älterer oder kranker Menschen große Bedeutung. Studien zeigen, wie sich flüchtige, wertschätzende Berührungen von Ärzt*innen oder Pflegekräften positiv im Vorfeld eines chirurgischen Eingriffs auswirken. Demenzpatient*innen sind oft ruhelos – eine kurze Massage ihrer Hände besänftigt sie. Das zeigt, wie wichtig es ist, „berührungsbewusst“ durchs Leben zu gehen, indem wir mit kleinen Gesten Nähe erzeugen. „Abgesehen vom rein psychischen Aspekt, werden mit Berührungen wichtige Signale vermittelt: Du bist da, ich sehe dich, du gehörst dazu, du bist hier sicher“, sagt Aljoscha Dreisörner, derzeit Postdoktorand für klinische Psychologie an der Universität Wien. Er arbeitete bei einer Studie der Frankfurter Goethe-Uni mit, die die positive Wirkung von Selbstberührungen und Umarmungen im Vorfeld stressiger Situationen untersuchte.

Was tun, wenn niemand da ist?

Die meisten Menschen empfinden bis ins hohe Alter eine tiefe Sehnsucht nach Hautkontakt. Aber was, wenn gerade niemand da ist, der die Arme nach uns ausstreckt? Dreisörner ist überzeugt, dass wir trotzdem viele gute Möglichkeiten haben, um Hautkontakt zu erleben. Massagen führen bereits nach zehn Minuten zu tiefer Entspannung. Ähnliches gilt für Selbstberührungen: „Zum Beispiel, indem man sich ganz bewusst an den Armen oder am Oberkörper reibt. Oder die Hände auf Herz und Bauch legt. Das entspannt, tut gut. Berührungen im Gesicht werden ebenfalls als angenehm empfunden“, sagt er. Im Sinne der bekannten Berührungsforscherin Tiffany Fields empfiehlt Dreisörner außerdem, herumzugehen, und wenn es nur durch die eigene Wohnung ist: „Das Berühren des Bodens mit den Fußsohlen ist eine gesunde und wichtige Form der Hautstimulation.“ 
Und dann wären da noch Haustiere als Kuscheltherapeuten mit weichem Fell und kalter Nase. Sie zu streicheln, ihre Nähe zu fühlen, für sie zu sorgen, berührt Körper, Geist und Seele. Der Effekt ist beachtlich: Haustierhalter*innen sind weniger häufig krank, leben länger und überstehen schwere Krankheiten besser.

Wussten Sie, dass...

...die Haut unser größtes und ältestes Sinnesorgan ist? Sie wiegt beim Erwachsenen ohne Unterhautfettgewebe ungefähr 5 kg und ist ca. 2 m² groß. Über 80 % der Hautoberfläche ist mit Haaren bedeckt, die wie feine Antennen wirken. Zahlreiche Rezeptoren, also Empfänger, leiten die Berührungsreize über das Rückenmark in Sekundenbruchteilen an das Gehirn weiter.

… in der Haut von Zunge, Lippen, Fingerspitzen und Fußsohlen die meisten Tastsinneszellen liegen?

… der menschliche Körper über eigene Fasern verfügt, die vermitteln, ob eine Berührung als angenehm empfunden wird? Die sogenannten C-taktilen Fasern werden auch als „Kuschelnerven“ bezeichnet.

… der Tastsinn im höheren Alter nicht mehr so präzise funktioniert, aber der Mensch bis zum letzten Atemzug Berührungsreize wahrnimmt, selbst wenn er dement ist?

… der Tastsinn, im Gegensatz z. B. zum Sehsinn, immer „eingeschaltet“ und wach bleibt, rund um die Uhr?